Leseprobe „Goslars Waaghaus“

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Teil 1: Geschichte und Bedeutung im Mittelalter

  • Die topographische und verfassungsrechtliche Entwicklung Goslars bis zum 13. Jahrhundert
  • Der Goslarer alte Markt vor 1400
  • Der Verfassungsstreit im 15. und 14. Jahrhundert
  • Die Folgen der Verfassungsänderung sowie des Hallen- und Mühlenstreites im Hinblick auf die Gestalt des Marktbezirkes
  • Goslars neuer Markt um 1500
  • Vom königlichen „Scepelhus” zum städtischen Waaghaus
  • Das Grundstück für das neue Waaghaus
  • Die bauliche Gestalt des Scheffelhauses
  • Das Waaghaus als Amtssitz einer Behörde
  • Das Waaghaus am neuen Markt
  • Die Gestaltung des neuen Marktes
  • Städtebauliche Wegleitung und Blickpunkte
  • Die Waaghäuser bis zum Stadtbrand von 1780
  • Aufgabe und Betriebsform des Goslarer Waaghauses seit 1400
  • Stapelrecht, Durchgangsverkehr, Niederlagen und Bergfaktoreien

Teil II: Das Gebäude

  • Bild- und Planunterlagen zur Rekonstruktion und zur Baugeschichte des erhaltenen Baues
  • Die Assekuration
  • Die Gestalt des Waaghauses nach dem Wiederaufbau1780
  • Der erste Umbau 1855
  • Der zweite Umbau um 1862
  • Der dritte Umbau 1874
  • Die Wohnungen der Ratsbediensteten im Haus
  • Das Ende als öffentliche Waage
  • Der Umbau zum Laden der Nordharzer Kraftwerke
  • Überlegungen für die Unterbringung eines Glockenspiels
  • Der Umbau für die „Tourist Information“
  • Ein Nachruf zum Ausklang

Teil III: Literatur, Anmerkungen, Register

  • Literatur und Anmerkungen zum Teil I
  • Literatur und Anmerkungen zum Teil II
  • Register
  • Ortsregister
  • Register der Örtlichkeiten in Goslar
  • Sachregister
  • Personenregister
  • Zu guter Letzt

In der Ratswaage. Nürnberger Holzschnitt des 16 Jahrhunderts

 

Einleitung

Das Haus Markt 7, in dem sich heute die „Tourist Information” befindet, wirkt unscheinbar. Mit der schieferverkleideten Front besitzt es keine besonderen Eigenarten und ist stilistisch kaum einzuordnen. Warum sollte man einem solchen Gebäude eine selbständige Veröffentlichung widmen, nur weil es in einer Platzwand des sonst so bemerkenswerten Goslarer Marktes und im Blickfeld der Besucher beim Glockenspiel steht?

Nur wenige wissen, daß das nach vielen Umbauten wesenlos gewordene Hausgrundstück einst eine große Bedeutung in wirtschaftsgeschichtlicher, verfassungsrechtlicher, planungs- und städtebaulicher Hinsicht besessen hat. Es war das Waaghaus Goslars. Schließlich fühle ich mich noch persönlich verpflichtet, dem Haus einen Nachruf zu widmen, denn ich habe darin das Licht dieser Welt erblickt. Mein Vater hatte als Stadtsekretär darin eine Dienstwohnung, und meine Mutter war die letzte Bedienerin der Ratswaage bis zu deren Aufhebung 1928.

Dieses Büchlein ist somit nicht nur eine Liebeserklärung an ein Haus, in dem ich die ersten zehn und wohl entscheidenden Lebensjahre verbracht habe, sondern auch eine notwendige stadtgeschichtliche Arbeit, die bisher nur insoweit geleistet worden ist, daß eine Ratsverordnung aus der Zeit um 1400 ausgewertet wurde. Zur Geschichte des Hauses, seine bauliche Gestalt und städtebauliche Bedeutung ist bisher noch nichts über allgemeine Aussagen Hinausgehendes veröffentlicht worden.

Die „Goslarer Waghaus- und Zollordnung von etwa 1400“ ist im Stadtarchiv in doppelter Ausfertigung erhalten, einmal als Anhang an den großen Stadtrechtskodex, außerdem als eine Art Handexemplar, das einst wohl im Waaghaus benutzt worden ist. Hier mag kurz die Schreibweise des Hausnamens erklärt werden. Ich habe mich für „Waage“ entschieden, Prof. Frölich, der 1948 den Text veröffentlicht hat, schrieb Wage, und im Text der Ordnung wechseln „waghe“”, „wache” und „weghe” miteinander ab. Waage wird sonst in älteren Veröffentlichungen verwendet.

Die bisherigen seit 1805, veröffentlichten Arbeiten über diese Ordnung sind weitgehend verfassungsrechtlicher Natur, weil darin Aufgaben des Schultheißen und des Marktmeisters erwähnt werden. Im Zusammenhang mit anderen Urkunden sind auch wirtschaftsgeschichtliche Überlegungen, wie die erwähnten Handelswaren und die Höhe der Zölle mit erfaßt worden. Zu beachten sind auch einige Beiträge, den mittelniederdeutschen Text zu übersetzen. Dabei bereiten die Warenbezeichnungen die größten Schwierigkeiten.

Für diese Untersuchung ist die Ordnung als eine der wenigen urkundlichen Nachrichten über die Aufgabe des Waaghauses zwar wichtig, für dessen Bausubstanz jedoch kaum aussagekräftig. Allerdings spiegelt sich in dem Inhalt der Abschluß eines Entwicklungsprozesses in der Rechts- und Gerichtsverfassung Goslars wider, insbesondere im Hinblick auf die Marktsiedlung. Solche Verfassungsänderungen haben vor allem dann, wenn sie über Jahrhunderte verteilt schrittweise ablaufen, auch städtebauliche Folgen. Verbunden sind damit dann repräsentative Gestaltungen der Gebäude, die mit derartigen Vorgängen verbunden sind. Diese Zusammenhänge sind bisher nur selten untersucht oder mit rechtlichen und topographischen Ereignissen bzw. Entwicklungen in Verbindung gebracht worden.

Zu solchen Veränderungen gehört auch die Einrichtung eines städtischen Waaghauses. Es ist deshalb notwendig, diesen Teil relativ weit ausholend in die Abhandlung mit einzubeziehen. Das gilt besonders für die Zeit bis zum 15. Jahrhundert, die hier jedoch nicht erschöpfend dargestellt werden kann.

 

Die topographische und verfassungsrechtliche Entwicklung Goslars bis zum 13. Jahrhundert

Das Waaghaus hatte in der mittelalterlichen Stadt eine weit größere Bedeutung, als der Name dies vermuten läßt. Es ist sogar der Ort, an dem sich die Verfassungsentwicklung von der königlichen zur bürgerlichen Verwaltung verfolgen läßt. Deshalb ist es verwunderlich, daß das Gebäude in den vielen Untersuchungen zur Rechtsordnung Goslars kaum erwähnt wird. Der im 19. Jahrhundert bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Baukörper und eine mangelhafte urkundliche Überlieferung mögen dazu beigetragen haben, daß das Haus unbeachtet blieb.

Es ist eine von den Forschern immer wieder bedauerte Erscheinung, daß aus der geschichtlich bedeutsamsten Zeit Goslars als Residenz der Salier- und Hohenstaufenkaiser kaum Urkunden vorliegen, die es uns ermöglichen, die Stadt- und Verfassungsentwicklung ausreichend zu belegen. Die großen Hoffnungen, die man bei der Herausgabe der Urkundenbücher hegte, haben sich für die Zeit vor 1200 nicht erfüllt. Ob die mehrfach geäußerte Vermutung, daß die Eroberung und Zerstörung Goslars im Jahre 1206 durch Gunzelin von Wolfenbüttel Schuld an diesem Mangel ist, mag hier dahingestellt bleiben.

Schließlich sind in jener Zeit von den weltlichen Herren nur sehr selten Urkunden für Untergebene ausgefertigt worden. Da beide Parteien weder lesen noch schreiben konnten, waren auch mündliche Belehnungen unter Zeugen rechtsverbindlich. Nur die Kirche legte offenbar auf die Schriftform großen Wert. Unter den nichtadeligen Empfängern finden sich in der Zeit vor 1200 fast ausschließlich die Fernhandelskaufleute. Auch aus dieser Sicht ließe sich der Mangel an einer schriftlichen Überlieferung gut erklären.

Mit einem hohen Forschungsaufwand haben Historiker seit dem 19. Jahrhundert versucht, diese Lücke auszufüllen. Dazu dienten Rückschlüsse aus den im 13. Jahrhundert reichhaltiger fließenden Schriftquellen, Vergleiche mit den Entwicklungen anderer Städte, topographische Untersuchungen und Ausgrabungsfunde. Dabei wurde immer deutlicher, daß sich in Goslar bereits entscheidende Entwicklungen vollzogen halten, bevor sie in anderen Städten eingeleitet wurden. Hoheitsakte und Rechtsverleihungen der Herrscher, die anderen Ortes durch die Ausfertigung von Urkunden vollzogen wurden, könnten hier noch mündlich und durch eine Zeichensetzung erfolgt sein.

So sucht man im Goslarer Urkundenbestand vergeblich nach den in unserem Zusammenhang wichtigen Verleihungen eines Stadtrechtes oder eines Marktprivilegs. Im Vergleich mit anderen Städten, für die insbesondere im 15. Jahrhundert derartige Rechtshandlungen unter Königsbann durchgeführt wurden, kann man feststellen, daß Goslar schon im 11. und 12. Jahrhundert nach der Bevölkerungszahl und Größe als Stadt im topographischen Sinne anzusehen war. Auch Spuren einer durch Rittergeschlechter ausgeübten Selbstverwaltung waren schon erkennbar.

Es ist hier nicht der Platz, diesen noch immer nicht vollständig geklärten Problemen erneut nachzugehen. Für unseren Zweck reicht es aus, referierend die frühe Geschichte des Marktbezirkes darzulegen. Das ist notwendig, um die Bedeutung des Waaghauses aufzuzeigen und die Hintergründe der Verlegung dieser Institution vom alten auf den neuen Markt deutlich zu machen.

Manche historische Grundlagen sind heute nur noch schwer zu erklären. In unserem Fall geht es um das sogenannte Königsregal. Danach waren die vier Elemente „Himmel und Erde, Feuer und Wasser“ durch Gottes Gnade in die alleinige Verfügungsgewalt des Herrschers gegeben worden. Dieser konnte alles verlehen und bezog aus deren Nutzung ein Entgelt. Das konnte sowohl regional als auch für Einzelobjekte geschehen. Für Goslar waren das vor allem der Bergbau (= Erde), die Waldnutzung für die Verhüttung (= Feuer) und die Mühlen(= Wasser). Die Windmühlen (= Luft) spielen hier keine Rolle.

Kompliziert war die Nutzung der Erde. Hier hatte sich eine gedankliche Trennung zwischen der Erdoberfläche und den Bodenschätzen darunter ergeben. Für die Fläche gab es schon früh Eigentum, meist in der Hand ritterlicher Geschlechter, die besondere Privilegien gegen Nutzungsgebühren weitergeben konnten. Zumeist waren damit auch Verpflichtungen des Grundeigentümers dem Nutzer gegenüber verbunden, wie z. B. rechtlicher und militärischer Schutz oder die Bereitstellung von Baulichkeiten. In diesen Bereich gehört auch die räumlich und zeitlich begrenzte Nutzung einer Fläche für den Marktverkehr, dazu auch das Verbot, nicht privilegierte Grundstücke dafür zu benutzen. Eine Konkurrenz wurde so ausgeschaltet.

Die Verleihung eines Marktrechtes in der Heidelberger Bilderhandschrift des Sachsenspiegels: Der König hat seinen Handschuh als Rechtssymbol geschickt. Der somit Belehnte hängt ihn als Beleg an das Marktkreuz, das er auf einen Erdhügel aufstellt.

Die Verleihung eines Marktrechtes gehörte somit zu den dem König vorbehaltenen Regalen. Er setzte einen Schultheißen ein, der in seinem Namen, also im Königsbann, für Recht und Ordnung auf der privilegierten Fläche zu sorgen hatte. Ihm standen dafür Büttel als Aufsichtspersonen und ein Marktmeister als Helfer zur Seite. Sonst fungierte er vor allem als Richter und Steuereinnehmer. Die Marktbeschicker hatten nämlich als Gegengabe für die Bereitstellung eines besonders abgesicherten Handelsplatzes dem König einen Zoll auf alle Waren zu zahlen. (Für Messen gilt diese Regelung in modifizierter Form bis heute.)

Zeichnung in der Heidelberger Handschrift des Sachsenspiegels: Unter dem Marktkreuz urteilt der Schultheiß nach Königsrecht.

Unter dem Begriff Zoll ist hier nicht die heute übliche Abgabe bei der Warenein- oder -ausfuhr zu verstehen. Es war damals eine Art Steuer, eine Abgabe, die auf allen verkauften Waren lastete. Bei einer Ausfuhr wurde an den Stadttoren allerdings kontrolliert, ob die Abgabe bezahlt war. Dafür wurden „Zeichen“, vermutlich Blechmarken, ausgegeben und vom Torwächter wieder eingesammelt. Die Waaghausordnung enthält sowohl über die Höhe des „Zolls“ als auch über das Verfahren einige Bestimmungen.

Als Amtssitz für die mit der Erfassung der Abgaben beauftragten Personen diente auf dem Markt das Zollhaus oder, weil die Waren zur Berechnung des Zolls gewogen, gezählt oder gemessen werden mußten, das „Waaghaus” bzw. “Scheffelhaus“. Entsprechend dürfte auch das Raumprogramm des Gebäudes ausgesehen haben. Es werden z. B. erwähnt: das Gefängnis im Keller, die „Hengerei” des Büttels, der Raum des Schultheißen und die eigentliche Waage. Demnach dürfte es ein stattliches, repräsenlalives Haus gewesen sein.

Im Stadtrecht und in der Waaghausordnung, beide aus dem 14. Jahrhundert stammend, werden die Aufgaben des Schultheißen und des Marktmeisters detailliert beschrieben. Sogar die Zeiten für den Handelsverkehr und Gerichtsverfahren sind darin festgelegt worden. Sie mögen, wie die Verfassungsrechtler vermuten, eine weit zurückreichende Rechtsordnung festgeschrieben haben. Hier muß die Feststellung ausreichen, daß mit dem Rechtssystem der Marktordnung und deren Sicherung der erste Ansatz einer Verwaltung der ansässigen Bevölkerung gegeben war.

Der unter Königsbann stehende Markt lag zu Füßen der Pfalz etwa in der Mitte des Talgrundes. Er kann sich aus einer Verbreiterung des alten Harzrandweges entwickelt haben, der vom Gröperntor zum Vititor die spätere Stadt diagonal durchquerte. Im 11./12. Jahrhundert kam es dann zu einer Erweiterung in nördlicher Richtung, zur Bildung eines Marktplatzes. Er wurde umschlossen von der Marktstraße (!), der Marstallstraße, der Bäckerstraße, der Fischemäkerstraße und dem Fleischscharren. Die Straßennamen deuten darauf hin, daß er mit Budenzeilen bebaut war, die wie bei einem Basar nach Berufs- und Händlergruppen aufgereiht standen. Der bis heute im Stadtgrundriß erkennbare Markt-„Platz“ war ungewöhnlich groß und im Vergleich mit anderen Orten, bei denen ein Straßenmarkt bis zum Ende des Mittelalters üblich blieb, eine sehr frühe Anlage. Das läßt sich damit erklären, daß der Bedarf einer Kaiserpfalz und einer großen Bevölkerungszahl einen ständigen Markt erforderlich machte, anstelle eines sonst üblichen Jahr-, Quartals-, Monats- oder Wochenmarktes.

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